Berlinale-Erinnerungen

 

Nein, die Berlinale wird 2010 nicht sechzig Jahre alt. Sie begeht vielmehr ihren sechzigsten Durchgang, denn Berlins erste Internationale Filmfestspiele fanden 1951 statt. Aber daß man heutzutage runde Jubiläen lieber ein Jahr zu früh feiert, das wissen wir ja spätestens seit Silvester 1999. Auch meine Wenigkeit wurde aufgefordert, sich an auf der Berlinale Erlebtes zu erinnern. Doch ach – schon wieder war es die falsche Erinnerung. Und so findet sich selbige denn auf dieser Website wieder.  

 

Also sprach Alfred Edel

Alexander Kluges Erstling „Abschied von gestern“ war zugleich einer der ersten westdeutschen „Jungfilme“. Und er enthielt den ersten Auftritt von Alfred Edel. Mit seiner sehr prononcierten Sprechweise, kombiniert mit bayerischem Akzent, besaß der intellektuelle Hobbymime einen großen Wiedererkennungswert, wirkte oft unfreiwillig komisch und avancierte rasch zu einem Szenestar. Edel war der ideale Darsteller von Bürokraten, Besserwissern und Wichtigtuern, die der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollten. Sein Unterhaltungswert war dabei nicht kalkuliert, sondern naturgegeben, wie ich irgendwann in den späten Achtzigern im Berlinale-Pressecenter feststellen konnte: Mobiltelephone waren damals noch teuer und dementsprechend selten. Man sprach via Festnetz, im Pressecenter – das im Bikini-Haus am Breitscheidplatz untergebracht war – nur leicht voneinander abgeschirmt durch Plexiglasschalen. In der Schale neben mir parlierte Alfred Edel – was ich erst bemerkte, als ich ihn hörte. Dann konnte ich allerdings kaum mehr weghören, mich dementsprechend wenig auf meinen Gesprächspartner konzentrieren, und ein Lachen mußte ich auch noch unterdrücken. Denn Edel sprach laut, überbetont, bayerisch – genau wie auf der Leinwand.

 

(Fast) Gefangen im Osten

Kaum war die Mauer gefallen, versuchte das Kalter-Kriegs-Kind Berlinale in den Ostteil der Stadt zu expandieren. Bereits die Filmfestspiele 1990 boten Wiederholungen des Programms „drüben“. Die Wettbewerbsbeiträge liefen sogar im Kosmos, damals Ost-Berlins größtes Kino und in vielerlei Hinsicht das Ostpendant zum wenig älteren Zoo-Palast, seit seiner Eröffnung 1957 Haupthaus der Berlinale. Filmbesessen hatte ich mir wieder einen randvollen Plan mit Vorführungen, die ich besuchen wollte, zusammengebastelt. Für Karel Reisz’ „Everybody Wins“ blieb nur, spätabends ins Kosmos zu reisen, was für einen alten West-Berliner zu jenem Zeitpunkt noch etwas einigermaßen Exotisches hatte. Richtig aufregend wurde es nach dem Streifen, der sich als veritable Enttäuschung entpuppte: Die Mauer war im Februar 1990 nur im übertragenen Sinne gefallen gewesen – zum größten Teil stand sie noch. Die Verkehrsverbindungen zwischen Ost und West waren recht spärlich, die meisten „Geisterbahnhöfe“ der West-Berliner U- und S-Bahnlinien in Mitte noch nicht wieder geöffnet worden. So hielt die U 8 noch nicht wieder am Alex. Ich hatte mich informiert, wann der letzte Zug ins heimatliche Kreuzberg ging. Also schnell aus dem Kosmos in die U 5 am Frankfurter Tor, Alexanderplatz hoch zur Stadtbahn, Jannowitzbrücke runter – doch der dortige, erst im November 1989 eingerichtete Kontrollpunkt, der Zugang zur U 8, war schon geschlossen. Die „Organe“, die damals noch Ausweis- und Zollkontrollen durchführten, hatten offenbar früher Feierabend gemacht. Von der letzten U-Bahn nach Kreuzberg hörte ich nur ein Grummeln. Was nun? Bis zum Kontrollpunkt Heinrich-Heine-Straße, gleich nördlich des Moritzplatzes, laufen? Nachts um eins? Nein, die S-Bahn fuhr ja länger! Also wieder hoch, bis Warschauer Straße (wohin ich vom Frankfurter Tor aus auch gleich mit der Straßenbahn hätte fahren können, das wären zwei Haltestellen gewesen, da die Tram nördlich der Warschauer Brücke wendete). Dann, selbstverständlich zu Fuß, über den Kontrollpunkt Oberbaumbrücke, der seit dem Mauerbau bestand. Und am Schlesischen Tor – natürlich nicht in die dort endende Hochbahn, denn die hatte bereits Betriebsruhe. Sondern in ein Taxi. In das einzige, das dort wartete, weshalb ich es mir noch mit einer fremden Frau teilte. Die weiter wollte als bloß bis zum Kottbusser Tor, wodurch mein letztlich recht unsinniger Ausflug in den Osten mich wenigstens nicht allzu teuer kam: Mit fünf Mark war ich dabei.

 

Der verhinderte Spielfilmregisseur

Jürgen Böttcher wurde bekannt als einer der besten und interessantesten Dokumentarfilmer der DEFA. Einmal, ganz zu Beginn seiner Karriere, hatte er freilich auch einen Spielfilm gedreht: „Jahrgang 45“, der mit vielen anderen vom berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 in den Giftschrank verbannt worden war. Seine Uraufführung erlebte der Streifen daher, provisorisch fertiggestellt, erst mit den meisten anderen „Verbotsfilmen“ von 1965/66 im Berlinale-Forum 1990. Dessen Haupthaus war der Delphi-Palast, und nach praktisch jeder Vorführung wurde dort diskutiert – das Forum war ja ein echtes Kind von „’68“. Böttcher äußerte bei dieser Gelegenheit in etwa, nach diesem Spielfilm habe er keinen weiteren machen dürfen und eben zum Dokumentarfilm zurückkehren müssen. Wie bitte? Ich erdreistete mich, den Meister zu fragen, ob ich ihn richtig verstanden hätte. Das sei doch wohl klar, pflaumte er zurück: Wenn man die Möglichkeit habe, Spielfilme zu drehen, mache man doch keine Dokumentationen. Vielleicht war er nur schlecht gelaunt. Und leider schleppte man damals noch nicht dauend kleine Telephone und ähnliches herum, mit denen man alles Mögliche aufzeichnen kann, weshalb ich die Aussage nicht zu beweisen vermag. Aber bemerkenswert fand ich das schon: Einer der Stars des deutschen Dokumentarfilms will dieses Genre nur notgedrungen gepflegt haben.

 

Die Berlinale verleidete mir „Light“-Zigaretten

Irgendwann in den frühen Neunzigern, als die Welt noch nicht von Gesundheitsaposteln, Benimmlehrern und HysterikerInnen regiert wurde, fungierte ein Tabakkonzern als ein Hauptsponsor der Berlinale. Über den in Amerika bereits anschwellenden Anti-Tabak-Terror lächelte man hierzulande damals noch und schüttelte den Kopf, ihn als „typischen Ami-Blödsinn“ identifizierend, der glücklicherweise niemals zu uns herüberschwappen würde. An den Eingängen der wichtigsten Berlinale-Kinos standen adrette junge Damen – wenn nicht meine Phantasie mit mir durchgeht, in einer Art Cowboy-Kostüm – und verteilten kleine Probepäckchen, die jeweils drei „Light“-Zigaretten einer der bis heute bekanntesten Marken enthielten. Sollte man diesen freundlichen Frauen etwas abschlagen? Oder nicht mitnehmen, was es mitzunehmen gab, umsonst? Also griff ich eifrig zu. Einige Zeit später erwies sich dies als ebenso hilf- wie lehrreich: Ich hatte versäumt, mich mit ausreichend Tabak zu versorgen, und das unmittelbar vor dem langen Osterwochenende. Vielleicht war ich zu faul, runterzugehen, vielleicht hatten die Geschäfte schon zu, vielleicht gab es auch an den Zigarettenautomaten, welche ihre Ware damals noch ohne Sperenzchen abgaben, nicht das, was ich rauchen wollte. Ja, womöglich war ich damals gerade wieder in einer meiner Zigarillophasen. Und wozu miesen Ersatz erwerben, wenn ich doch einen üppigen Vorrat an Gratisglimmstengeln von der Berlinale besaß? Der hielt dann allerdings nur bis zum Dienstag nach Ostern. Denn dieser „Light“-Mist war wahrlich umsonst: Er schmeckte nach kaum etwas, statt an der Zigarette zu ziehen, hätte ich mir genauso gut das glimmende Ende unter die Nase halten können. Und um auf eine anständige Nikotindosis zu kommen, waren drei- bis viermal so viele „Stäbchen“ notwendig wie sonst. Seither bin ich von solch einem Blödsinn wie „Light“-Zigaretten kuriert, werde ihn niemals kaufen und unterstütze auch das Verbot dieser Bezeichnung: Wer rauchen will, soll das gefälligst richtig tun, oder es ganz sein lassen. Für mich gibt es jedenfalls seither nur noch ordentliche Tabakwaren!

 

Die Lämmer schweigen bis heute

Bis zu ihrem Umzug in das Betongebirge am Potsdamer Platz litt die Berlinale permanent unter Raumnot. Einige neunzigerjahrelang wurde die Presse deshalb in das Haus der Kulturen der Welt ausquartiert – vermutlich, damit sie nicht weiter störte. Im großen Saal der ehemaligen Kongreßhalle fanden auch die Wettbewerbsvorführungen für die Journalisten statt. So sah ich dort an einem Nachmittag „Das Schweigen der Lämmer“. Leider hatte ich mir zu diesem Zeitpunkt bereits jenen Schnupfen eingefangen, der zur Berlinale gehört, seit sie aus dem wenig attraktiven Berliner Sommer in den völlig tristen Berliner Winter verlegt worden ist. Und diese Erkältung hatte am „Schweigen der Lämmer“-Nachmittag ihren Höhepunkt erreicht. Ich schniefte mit zugeschwollener Nase und dickem Kopf vor mich hin, störte mutmaßlich die anderen Zuschauer durch dosiertes Husten (alle vier bis fünf Minuten richtig laut, dazwischen mühsam verkniffen) und wollte eigentlich nur nach Hause. Von Frau Foster, Herrn Hopkins und Co. war ich nur genervt. In Erinnerung daran ist mein Verhältnis zu diesem Film bis heute arg getrübt. Danke auch, Berlinale!

 

Lektion in Filmkritik

1984 lief im Berlinale-Wettbewerb „Das Arche-Noah-Prinzip“, ein Frühwerk des damals noch weitgehend unbekannten Roland Emmerich. Von Sozialdramen, Frauendramen, Künstler-in-der-Krise-Dramen und was man sonst so in Deutschland bis heute für große Filmkunst hält, schon seinerzeit wenig begeistert, wollte ich das unbedingt sehen: Ein Science-fiction-Film aus der Bundesrepublik? Fürs Kino gedreht? Schätzungsweise der erste seit 1934? Im Zoo-Palast neben mir saß ein älterer Kritiker, der offenbar eher die herrschende Meinung vertrat. Während der ersten zehn, fünfzehn Minuten machte er sich eifrig Notizen. Dann döste er weg. Nein, „dösen“ ist falsch formuliert: Er schlief fest. Und schnarchte recht laut. Da der Film dann doch nicht so aufregend war, konnte ich ausgiebig darüber nachdenken, ob ich den Herrn am Ende des Werkes aufwecken sollte. Er wachte dann von selbst auf, packte seine Notizen weg und sagte: „Na ja.“ Ein „Na ja“, das klang wie: „Genau der Quatsch, den ich erwartet hatte.“ Das hat er dann vermutlich auch geschrieben. Nachdem er mir, der ich damals siebzehn war und noch Träume hatte, eine Lektion darüber erteilt hatte, wie Filmkritiken zuweilen entstehen.

 

Haben die wirklich…?

Nicht nur weil man mit zunehmendem Alter ruhiger wird und die Berlinale inzwischen in Abspielschachteln und einem Einkaufszentrum stattfindet, hat sie für mich stark an Reiz verloren. Längst weiß man ja auch: Fast jeder halbwegs interessante Film läuft innerhalb der folgenden ein, zwei Jahre regulär im Kino, kommt im Fernsehen oder auf DVD heraus. Ein Streifen, den ich seit seiner Aufführung im Berlinale-Panorama 1987 nicht wiedergesehen habe, war hingegen „Venner for altid“ von Stefan Henszelman, der, wie mir eine bekannte Internetfilmdatenbank verrät, bereits 1991 mit nur 31 Jahren starb. Eine dänische Produktion, in der es vor allem um einen netten, frisch ins Viertel gezogenen Jungen mit üblichen Teenagerproblemen geht – der aber einen neuen, reichlich ruppigen Schulfreund findet, welcher sich als schwul entpuppt. Letzteres wird in einer so selbstverständlichen und entspannten Weise geschildert, wie es den schönsten Klischees vom liberalen, weltoffenen Skandinavien entspricht. Und auf deutschen Leinwänden damals noch höchst ungewöhnlich war. Die Entspanntheit erreicht wohl ihren Höhepunkt (Wortspiel nicht beabsichtigt), als alle Schüler irgendeines Protestes wegen (ja, damals protestierte die jungen Leute noch) zusammengetrommelt werden und man den schwulen Blondschopf dazu bei einer höchst intimen Betätigung mit seinem etwas älteren Freund stört. Nun wurden damals Sechzehn- oder Siebzehnjährige noch nicht (wieder) als umfassend schutzbedürftige Kinder betrachtet; sie sollten ja mündige Bürger werden, nicht pflegeleichte Untertanen. Aber in einem Film über Teenager, also auch für Teenager, schwuler Sex, und der vielleicht sechzehnjährige Blonde saß da so rittlings auf dem anderen, der ebenfalls nackt war, aber bestimmt älter und auf dem Rücken lag – ja, ich sehe ein: Ob ich das damals richtig gesehen habe oder mittlerweile nur meine Erinnerung mit mir durchgeht, werde ich wohl niemals überprüfen können, unserer Zensur sei dank. Pardon: dem Jugendschutz.

 

 

Veröffentlicht am 11. Februar 2010.

 

 

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