1. Mai 1987 – Ich war dabei. Fast. Oder: Die falsche Erinnerung
Nun sind die allerersten der berühmt-berüchtigten Kreuzberger Mai-Krawalle auch schon zwanzig Jahre her. Immerhin muß ich nicht nur sagen: Ich war dabei – so ein alter Sack bin ich unfaßbarerweise bereits. Ich darf es auch sagen: Ja, an jenem 1. Mai 1987 war ich abends auf Kreuzbergs Straßen. Ich habe Bolle brennen sehen.
Fast.
An jenem 1. Mai 1987 bin ich ins Kino gegangen – wie damals, als ich noch jung und hoffnungsvoll war, mehrmals in der Woche. Ich ging ins Regenbogenkino in der Lausitzer Straße, das es noch heute gibt – eines der letzten Überbleibsel jener Off-Off-Kinos, die um 1980 vor allem in einigen der damals so vielen besetzten Häusern eingerichtet wurden, auch als eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit den Nachbarn.
Ich kann noch ganz genau sagen, welcher Film gezeigt wurde. Oder vielmehr: Ich könnte es. Denn ich schrieb mir derlei damals auf und pflege schon seit langem die Unsitte, möglichst wenig wegzuwerfen. Leider jedoch auch jene, dann alles in den zwangsläufig wachsenden Krambergen untergehen zu lassen, weshalb die Liste zweifelsohne noch irgendwo existiert – nur leider weiß ich nicht, wo.
Glücklicherweise bin ich zwar inzwischen vierzig, aber noch nicht so verkalkt, daß ich mich hemmungslos in Nostalgie über die achtziger Jahre erginge. Die Achtziger waren in vieler Hinsicht belanglos: eine öde, unproduktive Dekade. Auch wenn die Postmoderne damals ihren Siegeszug antrat, die unser Denken bis heute bestimmt. Auch wenn am Ende ein ganzes Weltreich zusammenkrachte. Anderseits war gerade in (West-) Berlin damals allerlei los – freilich, rückblickend betrachtet, vor allem viel Lärm um zumindest wenig.
Heftige Straßenschlachten war man jedenfalls spätestens seit dem 12. Dezember 1980 gewohnt, gerade in Kreuzberg. Aber die Gefahr, daß es krachen könnte, schien an jenem 1. Mai 1987 wohl nicht sehr groß. Nee, ziemlich sicher sogar war das so – war nicht auch die Polizei einigermaßen überrascht?
Ich lief jedenfalls ins Regenbogenkino. Vom Kottbusser Tor schnurstracks die Reichenberger Straße hinunter, dann rein in die Lausitzer, Richtung Landwehrkanal. Die Vorstellung begann vermutlich um 20 Uhr. Als ich zirka zwei Stunden später aus dem Kino kam, war es draußen natürlich dunkel. Ich weiß gar nicht, ob ich besonders viel Polizei bemerkt habe – und wenn, wäre sie in jenen Tagen und vor allem Nächten in Kreuzberg nichts Besonderes gewesen. Und waren ungewöhnlich viele Menschen auf der Straße?
Was mir in jedem Falle auffiel, war der rot erleuchtete Himmel, den man sah, wenn man die Manteuffelstraße gen Norden hinabblickte. Ja, ich glaube, ich habe keine Polizei bemerkt. Das Flackern von Blaulichtern schrieb ich der Feuerwehr zu, denn offenkundig brannte es irgendwo.
Daß dies am anderen Ende des Blockes war, also nur eine Straßenecke weiter, bekam ich so wenig mit wie daß es sich nicht um einen x-beliebigen Brand handelte, der womöglich durch einen Unfall ausgelöst worden war. Ich lief seelenruhig und völlig unbehelligt durch die Reichenberger Straße, zurück zum Kottbusser Tor, am späten Abend jenes 1. Mai 1987.
Was wirklich geschehen war, habe ich erst am nächsten Tag aus den Nachrichten erfahren.
Wenn ich mir das alles so vor Augen führe, kann ich nur sagen: Ich muß mich endlich anders erinnern! Aufregender! Dramatischer! Kurzum: mediengerechter. Sonst werde ich niemals als Zeitzeuge befragt.