Am Anfang ein Schock. Ich bereue fast, gekommen zu sein. Es hat schon seine Berechtigung, was Frau Lot in der Bibel geraten wird. Und nun geht es mir bald wie ihr.
Das Arsenal, kurz vor dem Ersten Weltkrieg als Bayreuther Lichtspiele eröffnet und 1970 bis 2000 als Kino der Freunde der Deutsche Kinemathek der West-Berliner Filmkunsttempel, besteht nur noch aus zwei nackten Räumen (Bildwerferraum und Toiletten nicht mitgerechnet). Beide sind hellgrau getüncht. Die Herzkörperverkleidungen wurden abgenommen, aber vor die Rippen gestellt. Vor allem im Vorführsaal hängen viele Kabel und halb herausgerissen wirkende Installationen unter der Decke. Die Übersetzerkabine ist verschwunden, das Loch in der Wand mit einer Platte verschlossen. Zum ersten Mal fällt mir auf, wie gering die Neigung des Saalbodens ist, eigentlich eine Zumutung. Kein Wunder, daß man immer vorgebeugt an der Leinwand vorbeizuhuschen versuchte, wenn man aufs Klo wollte (wird von mir nicht mehr inspiziert, soll aber noch viele historische Sprüche aufweisen) und die Zuschauer dabei nicht allzu sehr stören.
Im winzigen Foyer finden sich mehr Spuren: Über dem Zugang zum Saal steht noch immer, in erhabenen Buchstaben, „BITTE NICHT RAUCHEN“, die Türen besitzen noch immer ihre alten Messinggriffe (jedenfalls sehen sie so aus, als ob sie aus Messing wären). Hinter der Stelle, wo einst der Kassentresen stand, ist erkennbar, wo die Regale befestigt waren, auf denen Bücher und Zeitschriften präsentiert wurden und sogar der eine oder andere Schokoriegel – im Arsenal fast schon an der Grenze eines Sakrilegs, da man durch nichts vom Filmkunstgenuß abgelenkt werden sollte. Eis gab es nie, und Getränke mußte man immer in den Saal schmuggeln, bevorzugt nachdem man sie bei dem Händler an der Ecke Fuggerstraße gekauft hatte.
Bizarrerweise hat – samt Leuchte darüber – die Pinnwand überlebt, an der im Foyer Informationen, vornehmlich Kritiken, zu den Filmen des aktuellen und des kommenden Tages präsentiert wurden. Und seltsamerweise existiert noch die Leinwand, samt Kasch und rotem Vorhang. Letzterer soll inzwischen nicht mehr zu bewegen sein.
Ein gelähmter Vorhang, eine ständig offene Leinwand. Das ruft doch geradezu nach... Als die ersten Filme laufen, als Erika und Ulrich Gregor sprechen, legt sich langsam der Schrecken, die Dissonanz zwischen den Bildern in der eigenen Erinnerung (stets die gelbgrünen Sitze und die dunkelrot getünchten Wände, nicht die spätere Gestaltung, die nur noch kurz bestand) und dem, was man nun sieht – ähnlich als wenn man jemandem nach langer Zeit wieder begegnet und dieser sich stark verändert hat, vielleicht auch einfach nur deutlich älter geworden ist. War es nur deshalb gut, hiergewesen zu sein, um endlich wirklich zu realisieren, daß das alte Arsenal Geschichte ist, tot, ein für allemal vorbei?
Je länger der Abend dauert, desto mehr wird er ein bißchen quälend. Aber einzig, weil man stehen muß. Gleichzeitig erkennt man zunehmend die Atmosphäre, die der Saal nun hat, so nackt und dabei so mit Geschichte und Geschichten aufgeladen. Die Leere, das Verlassene, die Projektion von einem Baugerüst aus, das in etwa im Zentrum des Raumes steht – das erinnert stark an die Off-Off-Kinos, die Anfang der achtziger Jahre aus den besetzten Häusern heraus entstanden, und von denen es heute immer noch – stark verändert – das Eiszeit und – ziemlich originalgetreu – das Regenbogenkino gibt. Und die Leere wäre ja auch eine Chance: Was ließe sich alles mit diesem Saal machen! Werkstattkino im wahrsten Sinne des Wortes, mit improvisierter Bestuhlung aus Klappstühlen, Diskussionsrunden im wahrsten Sinne des Wortes, Raum für Performances, Vorträge, Lesungen, Theater, alles mit und ohne Film. Kinderkino ohne Angst vor verschmutzten Wänden. Liegestuhlkino im Winter? Vielleicht jetzt doch mit Getränkeverkauf, und zwar im Saal. Offene Filmabende: Zuschauer bringen Super-8-, 16-Millimeter-, Videofilme mit. Undergroundkino vergangener Jahrzehnte in angemessener Atmosphäre. Für interessierte Veranstalter die Möglichkeit, den Raum zeitweise umzudekorieren.
Da fällt einem plötzlich wieder ein, wie aufregend Kino sein kann. Spannend. Überraschend. Wenn sich Leute immer wieder Neues einfallen lassen. Wirklich Neues. Ungewöhnliches. Wenn man kommt und nicht so genau weiß, was einen erwartet. Jenseits des trostlosen Einerleis der durchrationalisierten Filmabspielmaschinen, die sich „Multiplex“ nennen, vorgeben, Kinos zu sein, und meist schon architektonisch – auch von außen – darauf vorbereitet sind, in naher Zukunft zum Elektromarkt zu werden. Jenseits des trostlosen Einerleis der angeblichen Blockbuster, Kultfilme und Events. Jenseits der geistigen Ödnis, die inzwischen in den Medien Einzug gehalten hat, mit ihrer Ausrichtung auf Wohlfühljournalismus und Häppchenkultur, selbstkreierte Trends und Begriffe, auf den Mainstream, die den immergleichen Mist abfeiern und sich dabei nur als verlängerter Arm der Marketingabteilungen der Verleiher gerieren.
Ja, so aufregend kann Kultur sein. Vielleicht könnte das alte Arsenal zu einer ganz anderen, ganz neuen Art von Kino werden. Noch gibt es den Saal jedenfalls und er harrt, nach einer vorübergehenden Nutzung als schwules Pornokino, einer neuen Nutzung. Nur Arsenal 3 oder 4 sollte man ihn nicht nennen – das klingt zu sehr nach Multiplex.
Veranstaltung am 28., Text veröffentlicht am 30. Oktober 2006.
Nachtrag vom 12. Dezember 2009: Natürlich erfüllten sich die schönen Hoffnungen nicht, wir schreiben schließlich 2009, nicht 1969. Inzwischen werden die Räumlichkeiten des alten Arsenals von einer Kita genutzt. Das winzige Foyer ist in seinem Grundriß mehr oder weniger erhalten geblieben und dient nun als Garderobe. Der Bildwerferraum wurde beseitigt – die Fläche, die er einnahm, wurde jener des früheren Zuschauerraums zugeschlagen, in die Außenwand ein großes Fenster eingebaut. Nur noch Eingeweihte können an einigen wenigen Details erahnen, daß sich hier rund neunzig Jahre lang ein Kino befunden hat, drei Dekaden über sogar ein bedeutendes.