In Sachen Valeska Gert

  

(C) Martin-Schmitz-Verlag

 

Wolfgang Müller (nein, nicht der, der andere) hat über Valeska Gert ein Buch geschrieben (welches Sie bitte umgehend käuflich erwerben wollen). Das ist allein schon deshalb gut, weil man über Valeska Gert gar nicht genug schreiben kann. Denn die Frau war so toll und wichtig und wird so unterschätzt und wenig beachtet – weshalb auch ich schon einmal über Valeska Gert geschrieben habe. Und da diese Website nicht zuletzt der Pflege der Profilneurose dient, können Sie dies hier lesen, und zwar exakt so, wie es 1992 erschienen ist*, in der Mappe „Valeska – Ich will leben, auch wenn ich tot bin!“ der Galerie Johanna Eglau, Berlin und Kampen, welche im Sommer jenes Jahres eine Hommage zum hundertsten Geburtstag von V.G. veranstaltete:

 

 

Warum ich mich in eine Tote verliebte
Gedanken des jungen Kritikers Jan Gympel, Berlin 1992

 

Meinen ersten intensiven Kontakt mit Valeska Gert hatte ich vor knapp zehn Jahren über eine Schallplatte, die ich aus der Bücherei entlieh: Zwischen all den „Damen von der alten Schule“, wie die LP betitelt war, zwischen großen Diseusen der zwanziger und fünfziger Jahre, war Valeska Gert die Einzige, die deutlich aus dem Rahmen fiel. Sangen die anderen „ordentlich“, so bediente sie sich einer höchst eigenwilligen Art des Sprechgesangs. Ihre „Ballerinnerungen einer Aristokratin“ begannen in feinem, geschulten Tonfall, wechselten dann in brünstig gekrähte Sätze und gipfelten in einem grellen Gelächter. Noch beeindruckender fand ich die „Spielerin“, wo vom einen auf den anderen Moment mit ordinärstem Berliner Hinterhofjargon das Dienstmädchen aus der affektierten „Dame von Welt“ hervorbricht und sich bis zu zwei überzogenen Schluchzern steigert.

Und schließlich war dann da auch noch ein Photo auf der Plattenhülle, auf dem die Gert sehr reizvoll aussah mit ihren großen Augen unter den dicken, dunklen Brauen, dem runden Gesicht unter den kurzen, rabenschwarzen Haaren, und genau jenem Schuß Häßlichkeit, der die wahre Schönheit erst erschafft.

Zur Begeisterung steigerte sich mein so schon gewecktes Interesse dann im Spätsommer 1985, als ich die Berliner Gedenkausstellung über Valeska Gert in der inzwischen verblichenen Galerie 70 sah. Alles, was es von und über diese Frau zu lesen gab, mußte ich fortan haben. Was für Geschichten sie zu erzählen hatte (wobei es einerlei ist, wieviel davon wahr und wieviel von der Erinnerung geschönt ist)! Wie sie ihre Familie und ihre Lehrer schockierte, indem sie – vor dem Ersten Weltkrieg! – grell geschminkt über den Ku’damm lief. Wie sie von den Skandalen schwärmte, die sie 1916 bei ihren ersten Auftritten in Berlin provozierte. Wie radikal respektlos sie an geheiligtes Kulturgut à la Oscar Wildes „Salomé“ ging, das ganze kurzerhand zusammenkürzte und konsequent abstrahierte. Wie sie ohne falsche Scham „Bild“ und „7 Tage“ zu ihrer Lieblingslektüre erklärte und von dem bizarren Treiben in ihren Lokalen berichtete. Oder wie sie, mitten im muffigen Berlin der fünfziger Jahre, als die berüchtigte KZ-Kommandeuse Ilse Koch auftrat.

Nun ist das Enfant terrible natürlich immer interessanter als die stinkbürgerliche Existenz. Aber in den „boring eighties“, den langweiligen, übersättigten achtziger Jahren, in denen auch künstlerisch wenig mehr geschah als daß man Altbekanntes wiederkäute oder im Sinne der „Postmoderne“ auf „schick“ getrimmt zusammenklatschte, wirkte die Gertsche Exzentrik noch expressiver und erfrischender.

Und was heißt schon „Exzentrik“? Doch nur, daß jemand hemmungslos seine Individualität, seine Persönlichkeit auslebt, ohne sich von den Menschen und den gesellschaftlichen Normen drumherum einengen zu lassen. Und das geschah dann bei der Gert auch noch so offenkundig ohne jede Berechnung, im Gegenteil: Sich selbst zu verkaufen, was bald der wichtigste Aspekt eines künstlerischen Talents ist, war sie vollkommen unfähig, an ihre Publicity und Langzeitwirkung hat sie viel zu wenig gedacht. So ist sie denn ja auch bis heute letztendlich eine „Vergessene“ geblieben (die Presse ihrer Heimatstadt Berlin hat ihren hundertsten Geburtstag weitestgehend ignoriert, ach was: überhaupt nicht bemerkt), jemand, für dessen Anerkennung zu kämpfen dann freilich umso mehr reizt. Und so ist der wahrscheinlich wesentlichste Teil ihres künstlerischen Schaffens, ihr Tanz aus den zwanziger Jahren, bis auf einige kümmerliche Filmschnipsel verloren.

Doch was für eine Kraft gerade dann aus der Tatsache spricht, daß all die Dinge, die sie später gemacht und uns hinterlassen hat, immer wieder einen sehr starken Eindruck von ihren Tänzen zu vermitteln scheinen – ob es nun Kabarettnummern der oben beschriebenen Art sind oder ihr Spiel in den diversen Filmen. Stets hat sie eine Stimmung, ein Gefühl oder eine Handlung auf das Wesentlichste reduziert, sie somit intensiv gesteigert und ihr eine ungeheure Klarheit und Wucht gegeben. Dabei mußte das nicht immer mit Gegrunz und Gebrüll abgehen: Einer der ergreifendsten Momente ist für mich jener, als sie in Ulrike Ottingers „Betörung der blauen Matrosen“ – durch den ich mich deshalb mehrmals gequält habe – als „alter Vogel“ stirbt, langsam, aber sicher das Leben aus ihrem Gesicht schwindet und schließlich zur Totenmaske erstarrt.

Als sie dies mit sparsamster Mimik vorführte, war sie 83, als Volker Schlöndorff sein Portrait über sie drehte, 85. Da hatten selbst die Andeutungen ihrer alten Nummern immer noch Kraft, sprudelten die Geschichten und bissigen Kommentare aus ihr heraus, da loderte immer noch ein Feuer in ihr, einer unwürdigen Greisin. Was sie damit vorlebte, macht bis heute einen wesentlichen, vielleicht DEN wesentlichsten Teil ihrer Faszination aus: Daß man sich selbst treubleiben, sein Leben auskosten kann bis ganz zum Schluß. Und daß man mit dieser Kraft auch den Tod – wenn schon nicht die von ihr so sehr gefürchtete Ewigkeit – besiegen kann: „Vielleicht liest es einer, wenn ich Staub geworden bin, und vielleicht versteht er mich, und vielleicht liebt er mich?“ hatte sie ihr Buch „Ich bin eine Hexe“ geschlossen. Hier ist einer, bei dem es geklappt hat.

 

 

 

* Wobei schon der erste Satz eher lauten sollte: „…durch eine Schallplatte, die ich aus der Bücherei entliehen hatte“. Doch sei’s drum. Später ist man immer klüger. Und besser. Hoffentlich.
Und Dokument ist Dokument. 

 

P.S.: Wolfgang Müllers Buch enthält übrigens den Nachdruck von Valeska Gerts erster kurzer, für Sergej Eisenstein verfaßter Autobiographie „Mein Weg“, einer absoluten Rarität, welche Sie in kaum einer Bibliothek finden werden (ich schätze mich glücklich, wenigstens ein Exemplar der Anfang der fünfziger Jahre gedruckten Neuauflage mein eigen zu nennen), und ein Grund mehr, den Band schnellstmöglich zu bestellen.

Und falls Sie wissen wollen, was ein ebenso kluger wie berühmter Zeitzeuge über einen Tanzabend von Valeska Gert schrieb, klicken Sie hier.

 

*

 

Vor zirka zehn Jahren durfte ich bei einem Valeska-Gert-Abend in den Berliner Sophiensälen einen kurzen Überblick über das Leben und Wirken der Künstlerin geben, der hier nun erstmals in schriftlicher Form an die Öffentlichkeit gelangt:

 

 

Wer ist denn Valeska Gert? – Auf diese Frage muß man stets gefaßt sein, wenn man Valeska erwähnt. Und, das wird meistens nicht gefragt, aber gedacht oder zumindest drängt es sich als Frage auf: Wie kommt denn ein so relativ junger Mensch dazu, sich mit einer soviel älteren Frau zu befassen, die vor über hundert Jahren geboren wurde, die nun auch schon zwei Dekaden tot ist, die kaum noch jemand kennt und von deren Schaffen doch relativ wenig erhalten ist?

Ja, wie kommt man denn dazu? Irgendwann Anfang oder Mitte der achtziger Jahre entlieh ich eine Schallplatte – sowas gab es damals ja noch – aus einer Stadtbücherei. Zwischen all den „Damen von der alten Schule“, wie die LP betitelt war, zwischen all den großen Diseusen der zwanziger und fünfziger Jahre wie Trude Hesterberg, Kate Kühl oder Hanne Wieder, war Valeska Gert die Einzige, die deutlich aus dem Rahmen fiel. Sangen die anderen „ordentlich“, interpretierten sie ganz hervorragend so, wie man es von einer guten Diseuse erwartet, so bediente sie sich einer höchst eigenwilligen Art des Sprechgesangs, bei der es ihr weniger auf die wohlgesetzte Artikulation ankam als offenbar darauf, Menschentypen und deren Emotionen möglichst direkt auszudrücken und bis zur Kenntlichkeit zu entstellen. Bei der „Spielerin“ brach mit einem Mal aus der affektierten „Dame von Welt“ das Dienstmädchen mit ordinärstem Berliner Hinterhofjargon hervor, das sich bis zu hemmungslos hysterischen Schluchzern steigerte. Und ihre „Ballerinnerungen einer Aristokratin“ hatte sie sogar selbst geschrieben: In feinem, geschulten Tonfall beginnend, verfällt die Dame über das Denken an vergangene Erlebnisse mit Männern in brünstig gekrähte Sätze und gipfelt in einem grellen Gelächter.

Donnerwetter! Wer war diese Frau? Ausführliche Antwort auf diese Frage erhielt ich dann im Spätsommer 1985, als es in einer längst vergessenen Berliner Galerie eine große Gedächtnisausstellung gab. Nun war meine Begeisterung vollends geweckt, nun versuchte ich ihre Filme zu erhaschen, nun besorgte ich mir auch ihre Memoiren „Ich bin eine Hexe“, die sie Ende der sechziger Jahre geschrieben hatte, zu einer Zeit als derlei noch nicht „in“ war und von jeder drittklassigen Darstellerin von anno dunnemals praktiziert wurde. Ein zweites Buch mit Erinnerungen und Bemerkungen, „Katze von Kampen“, erschien 1974, natürlich sind beide längst nicht mehr verfügbar, wie so viele der ohnehin spärlichen Zeugnisse von Valeska Gert.

Valeska Gert war, das legte ja schon die perfekte „Hinterhof-Performance“ in der „Spielerin“ nahe, Berlinerin, 1892 in der Alten Jakobstraße geboren. Keine allzu gute Gegend – westliches Exportviertel, im Zweiten Weltkrieg wird sie fast vollständig zerstört –, die soziale Entmischung kommt erst um die Jahrhundertwende in Gang, als Berlin wirklich zur Weltstadt wird und explosionsartig wächst. Auch die Familie von Gertrud Valesca Samosch, wie die Gert in Wahrheit heißt, zieht nun von der Köpenicker Straße, wo sie seit 1894 wohnt, in den „Neuen Westen“ rund um die Gedächtniskirche, eine frisch bebaute „bessere“ Gegend. Standesgemäß für die Samoschs, jüdisches Berliner Bürgertum, weitgehend säkularisiert. Valeska Gert wird mit Religion zeitlebens nichts am Hut haben.

Daß aus ihr nicht unbedingt jene Ehefrau und Mutter werden wird, wie man es damals erwartet, muß ihren armen Eltern schon früh dämmern: Grell geschminkt läuft sie noch vor dem Ersten Weltkrieg den Kurfürstendamm hinunter, flirtet hemmungslos, wird eine exzessive Ballbesucherin, versucht sich recht erfolglos in verschiedenen Berufen und schreibt Gedichte wie das schöne „Bleiche weiße Leiche“: „Bleiche weiße Leiche, ich laß dich nicht begraben, ich muß dich haben. Er stürzte sich auf sie, sie machte ihn zum Vieh – die bleiche weiße Leiche.“ Das war nicht unbedingt das, was man anno 1910 von einer Höheren Tochter erwartete.

Zwei später beschriebene Schlüsselerlebnisse hat Valeska Gert schon im Kindesalter. Ein Tanz vor dem großen Spiegel im dunklen Wohnzimmer: „Ich drehte mich und verlor jedes Bewußtsein von mir. Die Bewegungen kamen von selbst, sie flossen aus meinem Körper. Ich geriet in Ekstase.“ Und wie ihr eines Nachts aufgeht, daß nicht nur alles um sie herum, sondern auch sie selbst sterben müßte: „Weg werde ich sein, total weg für alle Zeiten, für ewig. Das Leben ist ganz kurz und die Zeit danach lang, lang, ewig, ewig, ewig. Ich mußte den Gedanken weiterdenken, dabei wird man ja wahnsinnig. Ich brüllte vor Entsetzen wie ein Tier. Es gibt keine Gnade und keinen Ausweg, einmal ist es mit mir zu Ende. Und wenn meine Leiche Staub geworden ist, dann blüht vielleicht nach Milliarden von Jahren eine Blume daraus oder ein Grashalm, oder ich bin ein Regenwurm geworden. Das ist alles. (...) Wenn alles so schnell vorbei ist, dann muß ich schnell viel erleben, ganz dicht. Das war mir klar.“ Also Reduktion, Komprimierung: „Meine Tänze waren kurz und klar, ich machte keine Variationen wie die anderen Tänzer, für mich waren nur Anlauf, tragischer oder komischer Höhepunkt, Entspannung wichtig, sonst nichts.“

Schon früh hat sie Tanzstunden gehabt, sich für Anna Pawlowa begeistert. Mit vierzehn läßt sie sich von der Schule nehmen, eine Verwandte rät ihr, zur Bühne zu gehen. Vom Theater hat sie zwar eine schlechte Meinung, nachdem sie während der Schulzeit auf Grund unglücklicher Umstände siebenmal hintereinander eine verstaubte Inszenierung von „Wilhelm Tell“ sehen mußte, „doch ich sagte mir, wenn ich schon einmal Geld verdienen muß, dann lieber im Theater als im Büro.“

So tanzt sie Max Reinhardts Dramaturgen Kahane vor. Der schickt  sie in einen Unterricht, in dem sie alle Hemmungen verliert, lernt, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, ihre Kraft zu entdecken und so auch ein wenig von ihren bedrückenden Gedanken an die Ewigkeit wegzukommen. Sie wird weitervermittelt an eine Frau, die Mädchen für einen Tanzabend sucht. Schon ihre ersten Auftritte anno 1916 beschreibt sie als Skandal: Die Gert zieht eine orangefarbene Pluderhose an, legt blaue Bänder um Hals und Füße, schminkt sich das Gesicht weiß. „Ich brannte vor Lust, in diese Süßigkeit hineinzuplatzen. Voll Übermut knallte ich wie eine Bombe aus der Kulisse. Und dieselben Bewegungen, die ich auf der Probe sanft und anmutig getanzt hatte, übertrieb ich jetzt wild. Mit Riesenschritten stürmte ich quer über das Podium, die Arme schlenkerten wie ein großer Pendel, die Hände spreizten sich, das Gesicht verzerrte sich zu Grimassen. (...) Der Tanz war ein Funke im Pulverfaß. Das Publikum explodierte, schrie, pfiff, jubelte. ich zog, frech grinsend, ab.“

So geht es bald regelmäßig zu im Ufa-Theater am Nollendorfplatz, wo sie – eine damals nicht ungewöhnliche Programmgestaltung – zwischen Filmen auftritt: „Jeden Abend brachen die tollsten Skandale aus, Riesenlärm, wenn ich meine wahnsinnigen Schritte machte. Die Menschen brüllten, waren enthemmt, warfen mit Gegenständen nach uns. Die zarte Sidi [ihre Tanzpartnerin] fiel halb ohnmächtig in die Kulissen, für mich war der Krach Lebenselement, ich wollte die Menschen in Bewegung bringen, je mehr sie brüllten, desto kühner wurde ich. Ich wollte über alle Grenzen hinaus, mein Gesicht verwandelte sich zu Masken, mein Rhythmus knallte, bis ich wie ein Motor stampfte.“

Nach weniger befriedigenden Zwischenspielen als Theaterdarstellerin an den Münchner Kammerspielen und am Berliner Deutschen Theater, in Karlheinz Martins Tribüne und einem eigenen Versuch, Oscar Wildes „Salome“ radikal modern und abstrahiert auf die Bühne zu bringen, konzentriert sie sich schließlich ganz auf den Tanz. Valeska Gert tanzt nichts Hehres, Abstraktes, wie im damals ebenfalls Furore machenden Ausdruckstanz, sondern Figuren und Situationen aus dem Alltag: eine Kupplerin, eine Hure, eine dicke Amme, Sportler, den Verkehr auf einer Straßenkreuzung, ein Kinoprogramm. Sie wird bewundert und gehaßt, Fred Hildenbrandt, Feuilletonchef des überaus angesehenen „Berliner Tageblatts“ widmet ihr 1928 ein ganzes Buch, Brecht, mit dem sie schon früher Kontakt gehabt hat, baut einen Film ihrer vielgerühmten Darstellung „Tod“ in die Uraufführung seines „Badener Lehrstückes“ ein. Nach diversen anderen Tourneen, auch ins Ausland, reist sie 1929 auf Vermittlung Pudowkins in die junge Sowjetunion, wo sie wiederum gefeiert wird und Eisenstein kennenlernt; mit ihm hat sie schon vorher korrespondiert und schreibt für ihn 1930 schließlich ein erstes kleines Selbstportrait-Büchlein: „Mein Weg“.

Zurück in Deutschland, ist es für sie allerdings schon schwierig geworden. Durch ihre Sowjetunion-Reise, die Kontakte mit Brecht, Auftritte in „Roten Revuen“, gilt sie als links. Für die Nazis ist sie ein bevorzugtes Haßobjekt im Bühnensektor, gleich nach Fritz Kortner. Ab 1933 kann sie aber auch im Ausland kaum mehr auftreten: Die Atmosphäre um sie herum belastet sie zu sehr, sie fühlt sich wie gelähmt. Andererseits kann sie sich von Berlin nicht lösen. Von Auslandsreisen kehrt sie immer wieder zurück, erst Ende 1938, inzwischen durch die Heirat mit einem englischen Kollegen und Verehrer Britin geworden, verläßt sie Deutschland endgültig Richtung USA. 

Dort will es weder mit dem Tanzen noch mit dem Filmen richtig klappen. Für ihren Hollywood-Antrittsbesuch kauft sie sich einen „apfelgrünen Hosenanzug“ (Anfang der vierziger Jahre!) und fällt auch ansonsten wieder unangenehm auf: „Eine furchtbar reiche Frau lud mich ein. Da ist plötzlich meine apfelgrüne Hose, ich weiß nicht, wie es gekommen ist, aufgegangen, runtergerutscht und ich stand im Freien, denn ich hatte nichts drunter. Humor schien niemand zu haben. Die Leute sagen: ‚Sie haben so viele Beziehungen.’ Aber in einer Woche war ich alle los.“

Also startet sie eine neue Karriere als Wirtin exzentrischer Kabarettlokale, wie sie schon mit dem Berliner „Kohlkopp“ Anfang der dreißiger Jahre eines geleitet hat: In New York eröffnet sie die „Beggar’s Bar“, in der Küchenpersonal und Bedienung meist auch für das künstlerische Programm zu sorgen haben, prominentestes Mitglied dieses Personals ist der junge Tennessee Williams. Ein wenig stellen diese Lokale wohl auch ansatzweise Verwirklichungen ihrer Vorstellung vom neuen Variete dar, wo es Filme geben soll, Tänze, kurze Schauspiele und Lieder („Die Lieder haben keinen Text und nur eine primitive Melodie. Man brüllt seinen Kummer, jubelt seine Freude, stöhnt seine Liebe. Naturlaute, anschwellend, abschwellend, in eine einfache Form gebracht“).

Nach Kriegsende will sie so schnell wie möglich nach Berlin zurück, weil sie glaubt, daß es dort nun wieder so aufregend zugehen würde wie nach dem Ersten Weltkrieg. Über Umwege kehrt sie während der Blockade an die Spree zurück, eröffnet unter dem Delphi, wo anschließend die Vaganten-Bühne einzieht, ein Lokal, später ihre „Hexenküche“ in der Paulsborner Straße. Aber die Stimmung ist gegen sie. Sie selbst hat sich immer auch als Medium ihrer Zeit, insbesondere der zwanziger Jahre verstanden, zurückgekehrte Emigranten sind nicht allzu gern gesehen, schon gar nicht, wenn sie dann auch noch als die berüchtigte KZ-Kommandeuse Ilse Koch auftreten. 1956 muß Valeska Gert ihr Lokal schließen, nachdem man ihr den Status als Nazi-Verfolgte aberkannt hat: Als britische Staatsbürgerin, so meinen die Richter, hätte sie – von deren Familie außer Valeska nur deren ebenfalls in die USA geflüchteter Bruder überlebt hat – ja nichts zu befürchten gehabt. Erhebliche Steuernachzahlungen sind die Folge, Valeska Gert zieht sich nach Kampen auf Sylt zurück, wo sie in ihrer Kate, die sie in den zwanziger Jahren gekauft und nach 1945 – beileibe keine Selbstverständlichkeit – zurückerhalten hat, den "Ziegenstall" eingerichtet hat, ein weiteres ihrer typischen Lokale. Dort stirbt sie auch im Frühjahr 1978.

Valeska Gert ist 86 Jahre alt geworden, aber sie ist doch zu früh gestorben: Um beim Publikum und/oder der Kritik Erfolg zu haben, ist es ja nicht nur wichtig, gut zu sein. Eine mindestens ebenso große Rolle spielt, den Nerv, den Geschmack der jeweiligen Zeit zu treffen. Valeska Gert gelang dies in den zwanziger Jahren, später weniger. Erst Mitte der siebziger Jahre begann mit der Nostalgiewelle die wirkliche Wiederentdeckung der Roaring Twenties. „Verrückte Alte“ und „unwürdige Greisinnen“ waren zu Valeska Gerts Lebenszeit noch nicht so gefragt wie heute. Inzwischen haben sich die Gesellschaft und vor allem die Medienlandschaft so gewandelt, daß Valeska Gert fraglos ein gern gesehener Gast in allen Fernsehtalkshows wäre, die in den siebziger Jahren erst in den Kinderschuhen steckten.

Valeska Gert ließ und läßt sich aber auch nirgends so richtig einordnen, paßt in keine Schublade: Tanz im engeren, traditionellen Sinne ist das, womit sie berühmt wurde, so wenig wie Pantomime, auch die Begriffe „Grotesktanz“ oder „Tanzkarikatur“ erscheinen ungenau – am ehesten kann man sie wohl als Vorreiterin des Tanztheaters betrachten. Und dann hat sie sich ja auch noch auf so vielen anderen Feldern betätigt. Wer so vielseitig ist, wer so wenig Augenmerk auf ein klar umrissenes Image legt, der muß sich nicht wundern, wenn er durch alle Raster fällt und schließlich vergessen wird.

Zumal Valeska Gert auch zu wenig Wert auf ihre Publicity und Langzeitwirkung legte. Genau das macht allerdings einen Großteil ihrer Faszination aus, läßt sie noch immer so explosiv und erfrischend wirken: All ihre Provokationen waren nie kalkuliert, wie so vieles, was einem heutzutage in der Öffentlichkeit, in den Medien, insbesondere auf den Bühnen, vorgesetzt wird und deshalb nur schal wirkt. Valeska Gerts Frechheiten geschahen, so hat man den Eindruck, ganz unwillkürlich, einfach aus einer gewissen Hemmungslosigkeit, Kompromißlosigkeit und Egozentrik heraus. Sie war einfach sie selbst und vollkommen unfähig, sich selbst zu verkaufen. Schon in ihren Schulzeugnissen soll gestanden haben: „G. ist herrschsüchtig.“ Später wurde sie rabiat, wenn ihr „jemand nicht glauben wollte“: „Konnte ich die anderen nicht von meinen Ideen überzeugen, bin ich über den Tisch gesprungen und habe geschlagen (...). Auf Edith, der Frau von Siegfried Jacobsohn (...), war ich schnell drauf und würgte sie, weil sie mir nicht glauben wollte. (...) Meckel, der beste Theatermanager von Paris, managte auch mich. Den habe ich aus dem fahrenden Auto rausgeschmissen. Ich habe nicht so leicht einen anderen Manager bekommen, sie hatten Angst vor mir.“ Ohne falsche Scham erklärte sie in ihren Memoiren anno ’68 (!) „Bild“ und „7 Tage“ zu ihrer Lieblingslektüre. Und man kann viele schön gemeine Sätze in ihren Büchern finden, etwa die Erklärung, warum sie denn nie Kinder haben wollte: „Außergewöhnliche Menschen haben meist äußerst gewöhnliche Kinder.“ Oder ihr politisches Credo: „Theoretisch bin ich demokratisch, praktisch aristokratisch – ich will, daß es den einfachen Menschen gut geht. Aber ich kann sie nicht ertragen.“

Zu wenig auf Öffentlichkeitsarbeit bedacht, gibt es bis auf ein paar kümmerliche Filmschnipsel kaum Dokumente ihrer Bühnenauftritte. Aber was für ein Beweis ihres Könnens und ihrer Ausstrahlung ist es andererseits, daß all die Dinge, die sie später gemacht und die sie hinterlassen hat, einen recht guten Eindruck von ihren Tänzen vermitteln. Stets hat sie eine Stimmung, ein Gefühl oder eine Handlung auf das Wesentlichste reduziert, sie dadurch aufs Intensivste gesteigert und ihr eine ungeheure Klarheit und Wucht verliehen. Dabei mußte es nicht immer mit Gegrunz und Gebrüll zugehen: Einer der atemberaubendsten Momente ist für mich jener, als sie – mit 83 – in Ulrike Ottingers „Betörung der blauen Matrosen“ als „alter Vogel“ stirbt, ganz langsam, undramatisch und geräuschlos das Leben aus ihrem Gesicht entschwindet und dieses schließlich zur Totenmaske erstarrt.

Valeska Gert war eine Frau mit tausend Gesichtern, sie konnte sinnlich und putzig wirken, hartherzig und fies – wenn man verschiedenste Photos von ihr miteinander vergleicht, mag man kaum glauben, daß es immer dieselbe Frau ist. Die berühmte Kritikerin Lotte H. Eisner fragte sich schon 1928, warum aus Valeska Gert kein großer Filmstar würde, „weil seltene Möglichkeiten vom Grotesken bis zum Tragischen in ihr liegen, weil ihr jeder mimische Ausdruck gegeben ist, jede Bewegung ihres Körpers spricht.“ 

Aber auch dies ist schließlich etwas, das sie interessant macht: Für die phantastische, vergessene, wiederzuentdeckende Valeska Gert lohnt es sich noch zu kämpfen, eine langsam, aber sicher wachsende Fangemeinde hat sich teilweise noch posthum gebildet. „Das Grauen vor der Ewigkeit war der Motor meines Lebens, die Grundmelodie“, hat Valeska Gert einmal geschrieben. Und ihre Memoiren schließen mit der Hoffnung: „Vielleicht liest es einer, wenn ich Staub geworden bin, und vielleicht versteht er mich, und vielleicht liebt er mich?“ – Bei immer mehr Menschen scheint sich dieser Wunsch zu erfüllen.

 

P.S.: Unerwähnt gelassen habe ich, daß Valeska Gert für einen der skandalösesten Momente der Stummfilmgeschichte sorgte: In G.W. Pabsts „Tagebuch einer Verlorenen“ gab sie die fiese Leiterin eines Heims für „gefallene Mädchen“ und zeigte schließlich, warum diese Frau die ihr ausgelieferten Zöglinge so gerne quält: Im Schlafsaal steht sie zunächst noch mit unbewegter Miene vor den halb entkleideten Mädchen und schlägt mit sachlicher Strenge einen Gong, um das Tempo vorzugeben, in dem diese ihre Leibesübungen absolvieren sollen. Dann aber wird der Rhythmus der Frau schneller, steigert sie sich immer weiter in ihr Tun, erwacht die Lust in ihr, löst sich ihr Gesichtsausdruck. Sie beißt sich auf die Unterlippe, gibt der Erregung schließlich ganz nach, ihr Blick verklärt ich, sie öffnet den Mund – und reißt die Augen jäh auf. Ihr Gesicht ist von Lust erfüllt, und Pabst blendet schnell ab. Es bleibt zu untersuchen, ob Valeska Gert damit die erste war, die – 1929! – in einem zur öffentlichen Vorführung zugelassenen Film glaubhaft einen Orgasmus dargestellt hat.

 

 

Veröffentlicht am 13./19. Juli 2009. 

 

 

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