Wo die DDR mal auf der Höhe der Zeit war und warum die Placierung der Love Parade im Tiergarten nur die Spitze eines Eisberges ist: Mit der Gartenkultur geht es schon seit langem bergab
Werden irgendwo in Berlin ein paar Bäume gefällt oder einige Büsche gerodet, wird eine allzu aufgelockert gestaltete Nachkriegssiedlung nachverdichtet oder gar eine Baulücke ihrer „Spontanvegetation“ entkleidet und wieder mit einem Haus gefüllt, kann man sich der Klagelieder sicher sein: „Dit bißken Jrün nehm se uns nu ooch noch weck, dabei is hier doch sowieso schon allet grau in grau!“
Derlei hat nicht nur damit zu tun, daß die Klage vom „Steinernen Berlin“ und seinem Mietskasernenelend inzwischen zum Gemeingut geworden ist, das reflexartig wiederholt wird – auch wenn Berlin längst ganz anders aussieht als vor siebzig Jahren und wohl einen höheren Anteil baumgesäumter Straßen besitzt als jede andere deutsche Großstadt. Das Lamento rührt vor allem auch daher, daß Grün „in“ ist. Zugleich aber wird von der Politik wie von den Bürgern mit Grünanlagen immer rücksichtloser umgegangen. Ein Widerspruch? – Nicht, wenn man Gartenkultur als Gradmesser für das allgemeine kulturelle Niveau einer Gesellschaft nimmt.
Die Gärten der Gotik waren meist klein, ummauert oder umzäunt und hauptsächlich mit Nutzpflanzen bestückt gewesen. Erst in der Renaissance erhielten Grünanlagen wieder völlig andere Maßstäbe: Mit der erneuten Hinwendung zur Welt wurde auch der Wunsch wiedergeboren, selbige zu gestalten und neben der Stadtbaukunst die Gartenbaukunst wiederbelebt. Dabei diente die Grünanlage in der Feudalgesellschaft ganz dem Ausdruck von Macht: Jener des Feudalherren, der seinen Willen auch den Pflanzen aufzuzwingen vermochte, die zu Achsen und Mustern geordnet, zu geometrischen Figuren gestutzt wurden, symmetrisch, plan und exakt abgegrenzt. Gegen diese betont unnatürlichen Formen setzte die bürgerliche Gesellschaft die fast unmerkliche Vervollkommnung der Natur, scheinbar zufällige Durch- und Ausblicke, gewundene Wege und Wasserläufe, hügeliges Gelände. In der zurückhaltenden Verfeinerung durch den Landschaftspark drückte sich das Verständnis von der Grünanlage als Ausweis von Kultur im Sinne eines verfeinerten Geistes und Geschmacks aus. Der proletarischen Gesellschaft hingegen, deren Siegeszug mit dem Untergang des „alten Europa“ 1914 begann und Ende der sechziger Jahre ihren Abschluß fand, dienen Grünanlagen nur noch als Gebrauchsgegenstand, den man nach Belieben verkonsumieren kann.
Dieser Prozeß begann so harmlos wie sympathisch damit, daß man dem Grün eine vornehmlich soziale Funktion zuordnete. Schon Lenné hatte sein damals neuartiges Konzept wohnortnahen Grüns im Plan der „Schmuck- und Grenzzüge von Berlin“ 1840 begründet: „Je weiter ein Volk in seiner Kultur und in seinem Wohlstand fortschreitet, desto mannigfaltiger werden auch seine sinnlichen und geistigen Bedürfnisse. Dahin gehören dann auch die öffentlichen Spazierwege, deren Anlage und Vervielfältigung in einer großen Stadt nicht allein des Vergnügens wegen, sondern auch aus Rücksicht auf die Gesundheit dringend empfohlen werden muß.“ Lennés Nachfolger, Berliner Stadtgartendirektoren wie Gustav Meyer, Hermann Mächtig und Erwin Barth, schufen in den darauffolgenden Jahrzehnten Volksparks wie den Friedrichs- und den Humboldthain, den Treptower und den Schillerpark, die Jungfernheide und die Rehberge, wobei Nutzungsansprüche wie Sport-, Spiel- und Liegewiesen mehr und mehr in den Vordergrund rückten.
Die Nazis fügten dem Berliner Grünflächenensemble, das zum grünen Ring zu vervollständigen trotz vieler Pläne niemals gelang, nur wenig hinzu. Die größte Anlage aus jener Zeit ist die Hasenheide, ein bis dahin wegen seiner Nutzung als Schießplatz gesperrtes, bereits bewachsenes Gelände, das Ende der dreißiger Jahre mit einfachsten Mitteln zum Volkspark hergerichtet wurde – übrigens nur als „Ausgleichsmaßnahme“, wie derlei heute heißt, für den Verlust jenes Volksparks, der in den zwanziger Jahren am Ostrand des Tempelhofer Feldes entstanden war und nun der Vergrößerung des Flughafens weichen mußte. Der Grunewald sollte zwar zum Waldpark aufgewertet werden. Zugleich aber schnitt man aus dem schon in den vorangegangenen Jahrzehnten erheblich dezimierten Forst, der einmal fast bis zur Spree gereicht hatte, ein großes Stück für die geplante Hochschulstadt heraus, über deren ersten Rohbauten sich heute der Teufelsberg erhebt; daneben existierten Pläne, durch umfassenden Kahlschlag das Havelufer einer intensiveren Nutzung zuzuführen. Den von Lenné gestalteten Tiergarten durchtrennte die Speersche Stadtplanung mit der um das Doppelte zur Paradestrecke verbreiterten heutigen Straße des 17. Juni und blähte den Großen Stern von achtzig auf zweihundert Meter Durchmesser zum monströsen Gedenkraum für das „zweite“ Reich auf. Wenig später dienten Humboldt- und Friedrichshain als Bauplätze für Hochbunker. Und als der Krieg vorbei war, degradierten die Sowjets den Treptower Park zur grünen Umrandung ihres monumentalen Ehrenmals wie auch, in geringeren Dimensionen, den Volkspark Schönholzer Heide.
In der Zeit des Wiederaufbaus erlebte die Praxis, Grünanlagen als beliebig verfügbare Freiflächenreserve zu betrachten, freilich erst ihren Höhepunkt: Für den Ausbau der Flugplätze fielen große Teile von Jungfern- und Gatower Heide, die Gesamt-Berliner Verkehrsplanung sah Autobahnen an der Ostflanke der Rehberge, quer durch die Hasenheide und über einen Großteil des ehemaligen Luisenstädtischen Kanals inklusive des Engelbeckens (das dann stattdessen unter dem Todesstreifen verschwand) vor. Reihenweise wurden den Bedürfnissen des Fortschritt und Wohlstand verheißenden Kfz-Verkehrs Schmuckplätze und Parkränder geopfert, Mittelpromenaden in Stellplätze verwandelt, ließ man neuausgebaute Hauptverkehrsstraßen in Grünflächen hinein „ausschwingen“. Ob Lützow- oder Friedrich-Wilhelm-Platz, Kleiner Tiergarten oder Olivaer Platz: Priorität in den Umgestaltungsplänen hatte der reibungslose Verkehrsfluß, die – oft verschnittenen – Restflächen durften dann die Gartenbauer gestalten und ein paar Bänke neben die Autolawinen stellen. Ihren Höhepunkt erlebte diese „Philosophie“ beim Bundesplatz, dessen grüne Mittelinsel zur Rampe eines Autotunnels wurde, die man mit etwas Grün umrandete.
Die im Laufe der siebziger Jahre hereinbrechende Ökowelle konnte den Niedergang der Gartenkultur kaum stoppen. Zwar brachte sie die Rekonstruktion manch Schmuckplatzes, so er denn verkehrsfern lag wie der Viktoria-Luise-Platz (derweil etwa beim Savignyplatz nur die beiden Inselhälften wiederhergestellt werden konnten, in die er nach dem Durchbruch der Kantstraße zerfallen war), und Grün in die Hinterhöfe und Straßen einstiger Arbeiterviertel- Sie brachte aber auch Absurditäten und hohle Euphemismen. Ersteres zeigt sich in Gestalt ganz neu – und nicht etwa aus überkommenen Friedhöfen, Guts- oder Hausgärten – entstandener Minianlagen, die die Bezeichnung „Park“ kaum verdienen wie der Nelly-Sachs-Park am Dennewitzplatz oder der „Park an der alten Zollmauer“ an der Skalitzer Straße: Er entstand auf einer kahlschlagsanierten Fläche, deren Neubebauung unter anderem durch politischen Druck nicht zustande kam – das Lamento über das „steinerne Berlin“ hatte wieder gegriffen. Die so freigewordene Südflanke des kleinen, dreieckigen Blocks befindet sich direkt an einer von der Hochbahn und vielen Autos befahrenen Trasse, deren Krach auf die noch bebaute Block-Nordflanke an der Oranienstraße einwirkt und von dieser reflektiert wird. Erholsam ist das nur für den, der Verkehrslärm als Musik empfindet; die Bewohner der betroffenen Häuser werden von vorn wie hinten beschallt. Und auch sonst muß man sich wundern, was sich heutzutage so alles Park nennt: Da gibt es „Industrieparks“, „Gewerbeparks“, „Innovationsparks“, nicht zu vergessen „Vergnügungsparks“. Der hier vorexerzierten Verwendung des Begriffs folgend, bezeichnet „Park“ eine Ansammlung von Gebäuden, die lose in der Gegend verstreut und von ein wenig Grün umrankt sind. Folglich wären Marzahn, das Märkische Viertel oder die Neubaueinöde östlich des Alexanderplatzes wohl „Stadtparks“, und die DDR befand sich mit der Schöpfung des „Ernst-Thälmann-Parks“ Ende der achtziger Jahre einmal ganz auf der Höhe der Zeit.
Tatsächlich trat die Abwertung des Grüns zuerst in seiner Relation zu Wohnbauten zutage: Kehrten die Begüterten vor neunzig, hundert Jahren der Stadt den Rücken und legten sich – etwa in Dahlem oder Nikolassee – Landhäuser zu, so gehörte zu diesen selbstverständlich ein möglichst großer Garten. Als Ausweis von Kultur, als Hinweis auf die Traditionslinie in der man sich – auf das Vorbild des Adels schielend – sehen wollte, schien er unverzichtbar. Heute ist dies offenkundig nicht mehr notwendig. Um die Gärten der großbürgerlichen Landhäuser des frühen zwanzigsten Jahrhunderts führen die Denkmalpfleger seit Dekaden einen oft aussichtslosen Kampf, nicht nur in dem seiner Oberschicht nach 1945 weitgehend beraubten (West-) Berlin, sondern auch in Hamburg-Blankenese oder auf den „Millionärshügeln“ vor Frankfurt am Main. Allerorten ist der einstige Ausweis von Kultur nur noch zur profitablen Bebauung geeigneter Boden, der optimal ausgenutzt sein will. Und warum auch nicht? Selbst die Berlin-Potsdamer Gartenlandschaft, vielleicht die erfreulichste Hinterlassenschaft der Hohenzollern, wird ja inzwischen mit Wohnanlagen ver- und entwertet, wie die Bebauung des Glienicker Horns zeigt.
Entstanden einst Schmuckplätze wie der Bayerische Platz oder Grünzüge wie der Volkspark Wilmersdorf mit oder sogar noch vor der Bebauung der Gegend, so errichtet man heute erst einmal die Häuser und dann folgt – vielleicht – der Park. Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen warten dementsprechend auf den größten Teil der ihnen seit langem versprochenen Naherholungsgebiete bis heute. In der Regel erhalten neue Heimstätten, gleich ob Trabantenstädte, kleinere mehrstöckige Siedlungen oder haufenweise „Häuschen im Grünen“, keine Gärten und Parks mehr, sondern eine „Freiraumgestaltung“ mit „Abstandsgrün“: In der Praxis oft eine grüne Soße im immer weiter wuchernden Siedlungsbrei, Bäume und Sträucher abermals als Umrandung von Parkplätzen und Verkehrsschneisen. Mit der traditionellen Stadt – geballt, durchmischt, blockrandbebaut – ging in der Moderne eben auch ihr Antipode, der Stadtpark unter. Eines der bezeichnendsten Beispiele dafür ist der Waldeckpark an der Oranienstraße: Zwar ist die einst aus einem Pestfriedhof hervorgegangene Anlage nach dem Zweiten Weltkrieg um mehr als das Doppelte vergrößert worden, doch inmitten der in der Gegend verstreuten Wohnzeilen aus den fünfziger Jahren nimmt man den Park nicht mehr als solchen wahr.
Andererseits ist dieses Verschwinden womöglich eine Chance. Denn „optimale Ausnutzung“ ist ein Schlüsselwort für den Umgang unserer heutigen Gesellschaft mit Grünanlagen. Beispielsweise ist eine Rekonstruktion des unter dem Todesstreifen verschwundenen und noch nicht wiederhergestellten Abschnitts des Luisenstädtischen Kanals nach den Originalplänen Erwin Barths aus der Zeit um 1930 kaum durchsetzbar. Heute sollen in dem ehemaligen Wasserlauf am besten noch zwei, drei Sportplätze untergebracht werden – und dies, obwohl die Umgebung bei weitem nicht mehr so dicht besiedelt ist wie vor siebzig Jahren.
Doch in eine Zeit, in der man sich nicht mehr an der nächsthöheren Gesellschaftsschicht orientiert und in der die hemmungslose Entfaltung der eigenen Person zum absoluten Ideal erhoben worden ist, passen elegante Parks nicht mehr, gelten nur zum Betrachten und Promenieren gedachte Schmuckplätze nahezu als politisch obszön und ist reaktionär, wer zügelloses Grillen oder die Benutzung jedes Rasens als Liegewiese und Fußballplatz nicht goutiert. Rücksichtlose Nutzungsansprüche auch und gerade an historische Parkanlagen finden sich zuhauf: Rund neunzig Prozent der unter Schutz stehenden historischen Parks und Gärten in der Bundesrepublik, so schätzte der Deutsche Heimatbund 1996, sind gefährdet. Beispiele für Verwahrlosung und Zerstörung durch mangelnde Pflege, Überbauung, Zweckentfremdung und Übernutzung durch Veranstaltungen gibt es aus dem ganzen Land. Das Grillen und die Love Parade im erst vor wenigen Jahren mit viel Geld und Mühe nach Lennés Plänen rekonstruierten Tiergarten sind also nur die Berliner Spitze des Eisberges.
In den zwanziger und frühen fünfziger Jahren, die von weit größeren sozialen und finanziellen Sorgen belastet waren als unsere Zeit, trieb man nicht nur den Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel oder den Wohnungsbau forcierter voran als heute, man tat auch mehr für die Pflege und die Neuanlage von Grünflächen. Der politische Wille unserer Tage läßt viele Grünanlagen dagegen (und sei es „nur“ durch Etatkürzungen) verkommen, tritt ihrer hemmungslosen Überbeanspruchung nicht entgegen und sieht bei den Plänen für neue Parks vorzügliche Sparmöglichkeiten.
Gemeinsam in der Renaissance wiedergeboren und im Barock aufgeblüht, gingen Stadt- und Gartenbaukunst im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts auch gemeinsam wieder unter. Für die proletarische Gesellschaft ist eine Grünanlage kein Gartenkunstwerk oder Denkmal mehr, sondern nur noch irgendein Ding, das man verbrauchen kann. Und wenig sagt mehr über das kulturelle Niveau unserer Epoche aus als der Umstand, daß viele es schon gar nicht mehr bemerken, wenn sie am Ende statt im ersehnten Grün, das sie mitniedergetrampelt haben, buchstäblich im eigenen Dreck sitzen.
Text aus dem Jahre 1997, veröffentlicht am 12. Januar 2007.