In die Glieder fährt einem der Schreck bei jeder Verlustmeldung: Hab ich dieses gerade zerstörte, pardon: ?abgängige? Gebäude photographiert? Ja, hab ich: Stellwerk WL am 1. Juni 2012.
Zu jedem Monatswechsel habe ich Angst, in meinen Briefkasten zu schauen. Denn dann findet sich dort womöglich die neueste Ausgabe der ?Berliner Verkehrsblätter?.
Zu jedem zweiten Monatswechsel habe ich noch mehr Angst, in meinen Briefkasten zu schauen. Denn dann findet sich dort womöglich auch noch die neueste Ausgabe der ?Verkehrsgeschichtlichen Blätter?.
Begründet wird diese Angst nicht durch die Qualität dieser beiden Fachzeitschriften. Es sind hervorragende Publikationen, welche Sie bitte unbedingt abonnieren sollten, und zwar umgehend.
Begründet wird diese Angst durch das, worüber diese beiden Blätter berichten müssen, um ihrer Chronistenpflicht nachzukommen: Fast in jeder Ausgabe sind neue Verluste an historischer Bausubstanz bei Berlins U- und S-Bahn zu beklagen.
Wo ganze Stationen der Spitzhacke zum Opfer fallen und die staatliche Denkmalpflege sich noch immer für Bauten, die jünger als 53 Jahre sind, für unzuständig erklärt (bei den 1960er, 1970er oder 1980er Jahren kann schließlich niemand von einer ?abgeschlossenen Gestaltungsphase? reden, gelle?), ist der Verlust von Anlagen, die einem eng umgrenzenden Zweck dienten und auch deshalb nur einer neuen Nutzung zuzuführen sind, schon fast nicht mehr der Rede wert.
Und so verschwindet gerade eines der wenigen Eisenbahnstellwerke, das in West-Berlin zu Mauerzeiten entstanden ist: Stellwerk WL, gelegen direkt am S-Bahnhof Innsbrucker Platz (und übrigens direkt neben der Schöneberger Hauptstraße, an einem inzwischen gleislosen Gebiet, also zumindest potentiell für einen neuen Nutzer problemlos erreichbar ? was ihn alles aber auch nicht rettete).
Der Bau sah wenig ?ostig? aus, war er doch nur indirekt der DDR-Reichsbahn geschuldet, welche bis Ende 1993 auch in dem (ehemaligen) Westteil der Stadt den Eisenbahnverkehr verantwortete.
Die Entstehung von Stellwerk WL hing zusammen mit dem weiten, momentan (noch) freien Gelände, welches sich westlich von ihm erstreckt und wo heute noch ein Schuppen darauf hindeutet, daß dies einst einer der großen innerstädtischen Güterbahnhöfe Berlins war. Und sie hing zusammen mit der langen Brücke, welche östlich von Stellwerk WL nicht nur die Haupt- und die Eisackstraße überspannt, sondern auch die hier in einem Tunnel geführte Stadtautobahn.
Für deren Bau mußten in den siebziger Jahren neben vielem anderen auch die Ringbahnbrücken abgebrochen werden. Die Reichsbahn zeigte sich ? wie in solchen Fällen üblich ? gegenüber den westlichen Stellen kooperativ, bestand aber darauf, daß während des Baus nicht nur der Verkehr der damals (des nach dem Mauerbau ausgerufenen Boykotts wegen weitgehend leeren) S-Bahn aufrechterhalten blieb, sondern auch ein mindestens eingleisiger östlicher Zugang zum Güterbahnhof Wilmersdorf. In diesem Zusammenhang errichtete man, neben erwähnter Brücke, einem neuen Zugang zum S-Bahnhof, dem vermutlich für alle Zeiten ungenutzten Rohbau eines U-Bahnhofs sowie dem Tunnel des Autobahnstadtrings, Stellwerk WL. Letzteres natürlich bestellt und bezahlt vom Verursacher der Baumaßnahme, also dem West-Berliner Senat.
Dessen ?Hausarchitekt? Rainer Gerhard Rümmler (genauer: der Leiter der Abteilung Hochbau-Bauentwurf beim Senator für Bau- und Wohnungswesen) entwarf dann ein recht voluminöses Gebäude im klobigen Stil der Zeit. Damals fand man das sicher schick ? und im Inneren gab es für die Reichsbahn ebenso hochmoderne westliche Stellwerktechnik.
Die siebziger Jahre mit ihrer Vorliebe für wuchtige Formen, wilde Muster und schlimme Farben erfreuen sich schon seit den Neunzigern ? als jenes Retrokarussell, in dem wir endlos gefangen scheinen, auf Hochtouren kam ? großer Beliebtheit und Wertschätzung, gerade bei der Jugend. So heißt es in den Medien.
Mit Sicherheit sagen läßt sich jedoch nur eins: Auf die baulichen Hervorbringungen jenes geschmacklosesten Jahrzehnts hat sich die angebliche Begeisterung noch nicht im geringsten ausgewirkt. Sie werden vielmehr in immer schnellerem Tempo beseitigt oder bis zur Unkenntlichkeit verändert ? was die Öffentlichkeit entweder gleichgültig hinnimmt oder mit Begeisterung quittiert. Motto: Endlich kommt der häßliche, unerträgliche Mist weg!
Rainer Gerhard Rümmler, dessen Todestag sich in Kürze zum zehnten Male jährt, ist in Berlin vor allem bekannt geworden als der Gestalter fast aller im Westteil der Stadt zwischen 1966 und 1996 neu eröffneten U-Bahnhöfe ? rund fünfzig an der Zahl. Insbesondere für seine zeittypische Hinwendung zur Postmoderne, die viele ?bunte Bahnhöfe? hervorbrachte, bekam der Architekt in den achtziger und neunziger Jahren reichlich Applaus.
Inzwischen wird sein Schaffen im Berliner Untergrund mit wachsender Geschwindigkeit und Rücksichtslosigkeit beseitigt. Und unter völligem Desinteresse der allgemeinen wie der Fachöffentlichkeit. Aber das versteht sich ja eigentlich von selbst.